Autor Wolfgang Hübner
Die unsägliche SPD-Teilvorsitzende Saskia Esken schämt sich, ihr Parteijungspund Kevin Kühnert schämt sich auch. Soviel Schamgefühl ist bei ansonsten Schamlosen wie den beiden erstaunlich – über was oder wen schämen sie sich denn so sehr? Über die tiefe Verwicklung ihrer SPD in die AWO-Skandale in Hessen und anderen Bundesländern? Über die schlechten Umfrageergebnisse der einst so stolzen Partei? Oder etwa endlich einmal auch über sich selbst? Weit gefehlt: Esken und Kühnert schämen sich für den 77-jährigen SPD-Parteifreund und ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse. Denn der hat vor einigen Tagen in der FAZ einen längeren kritischen Text zu den Auswüchsen der sogenannten „Identitätspolitik“ veröffentlicht. Thierse, das ist sein unverzeihliches Vergehen, hat nämlich auch die linke Variante dieser „Identitätspolitik“ attackiert.
Dabei hat der Altpolitiker beklagt, dass Diskussionen über ethnische Identitäten, Rassen, sexuelle Orientierung oder Religionen immer schwieriger und aggressiver, ja tendenziell unmöglich würden. Denn bestimmte Minderheiten seien nicht mehr bereit, die für solche Diskussionen notwendige Toleranz für Andersdenkende oder auch nur Zweifelnde aufzubringen. Und Thierse hat daran erinnert, dass es immer noch Mehrheiten gibt, über die kleine Minderheiten nicht einfach nach Gutdünken hinweggehen könnten. Eigentlich sind das Selbstverständlichkeiten, die aber nicht nur in Deutschland schon längst nicht mehr selbstverständlich sind. Und schon gar nicht in der zur Minderheitenpartei herabgesunkenen SPD.
Die völlig maßlose, ja hysterische Reaktion von Esken und Kühnert auf den Thierse-Artikel ist der Verwandlung der einstigen Partei der Arbeiter und „kleinen Leute“ in einen Tummelplatz von Ideologen, akademischem Proletariat, Sozialindustrie und allerlei Minderheiten geschuldet. Das ist zwar bedauerlich für die älteste Partei Deutschlands, wäre aber besser zu ertragen, wenn es im etablierten Parteienspektrum ganz anders aussähe. Doch auch dort haben sich Minderheiten wie die Gender- oder LGBTQ-Bewegungen immer größere Durchsetzungsmacht verschafft, von der betrüblichen Lage an den Universitäten und in vielen weiteren Einrichtungen ganz zu schweigen. Wer diese Macht in Frage stellt, wird gnadenlos in die „reaktionäre“ Ecke oder gleich unter „Rechts“- oder gar „Nazi“-Verdacht gestellt.
Gründung des „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“
Allerdings erhebt sich nun gegen diese neue Diskursdiktatur verstärkt Widerstand. Das Beispiel Thierse ist zwar spektakulär wegen der verräterischen Reaktionen in der SPD-Spitze. Wichtiger aber ist die Anfang Februar 2021 erfolgte Gründung des „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ (www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de). In diesem Netzwerk schließen sich Wissenschaftler aus ganz verschiedenen Bereichen zusammen, um dem wachsenden Druck linker „Identitätspolitik“ und der gezielten Verunmöglichung freier Debatten etwas entgegenzusetzen. Nicht zuletzt soll der Zusammenschluss denen mehr Schutz geben, die unter Beschuss von aggressiven Minderheiten geraten sind oder künftig noch geraten werden. Und das sind nicht wenige Menschen.
Dass es eines solchen Netzwerks überhaupt bedarf, zeigt den erbärmlichen Zustand der realen Meinungs- und Forschungsfreiheit in Deutschland. Deutlich wird jedoch auch der Wille zur Gegenwehr. Die Stigmatisierung abweichender Meinungen hat ein Maß erreicht, das als Alternative zur Gegenwehr nur noch die bedingungslose Kapitulation vor den linksidentitären Diktatoren des Diskurses übrig lässt. Für die Initiatoren des Netzwerks ist das keine Alternative. Ihren Aktivitäten ist deshalb möglichst großer Erfolg zu wünschen. Mit der Unterstützung aus der etablierten Politik sollten sie jedoch nicht rechnen. Aber vielleicht wird Wolfgang Thierse auf seine alten Tage noch Mitglied. Seine Mitgliedschaft in der SPD hat er jedenfalls schon in Frage gestellt.